1. Sehen die Bedingungen des Versicherers die Durchführung eines Sachverständigenverfahrens vor, kann der Versicherungsnehmer zunächst auf Feststellung der Ersatzpflicht klagen; auf eine Leistungsklage muss er sich dann nicht verweisen lassen (Anschluss an BGH, Urteil vom 13.04.2022 - IV ZR 60/20, IBRRS 2022, 1345.*)
2. Eine Auskunftsobliegenheit in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen, die den Versicherungsnehmer verpflichtet, "jede Auskunft auch in Schriftform zu erteilen", umfasst nicht die Verpflichtung zur Erteilung von Vollmachten zur Akteneinsicht in behördliche Unterlagen.*)
3. Unzureichende oder ausweichende Antworten auf eine Anfrage des Versicherers, die die Grenze zur Antwortverweigerung nicht überschreiten, können abhängig von den Umständen des Einzelfalls eine lediglich leicht fahrlässige Obliegenheitsverletzung darstellen, die eine Leistungskürzung nicht rechtfertigt.*)
OLG Dresden, Urteil vom 11.10.2022 - 4 U 36/22
VGB 2008 §§ 7, 12; VVG § 81; ZPO § 256
Problem/Sachverhalt
Der Versicherungsnehmer (VN) schließt bei der Gebäudeversicherung (VS) im Jahr 2012 eine gewerbliche Versicherung zum Neuwert mit Zeitwertvorbehalt ab. Nach dem Vertrag kann der VN verlangen, dass die Höhe des Schadens in einem Sachverständigenverfahren festgestellt wird. Der VN wiederum muss der VS als Obliegenheit im Rahmen des Zumutbaren Auskünfte zur Feststellung des Versicherungsfalls oder des Umfangs der Leistungspflicht schriftlich erteilen. Im Oktober 2015 wird das Gebäude durch Brandstiftung beschädigt. Die VS zahlt 25.000 Euro, übersendet dem VN einen umfangreichen Fragenkatalog und eine Checkliste und bittet ebenso wie der von ihr eingeschaltete Sachverständige (SV) um eine Vollmacht zur Kontaktaufnahme u. a. mit dem Bauamt. Der VN antwortet auf die Fragen, lehnt aber eine generelle Vollmacht ab. Die VS lehnt die Deckung wegen vorsätzlicher Obliegenheitsverletzungen ab. Der VN klagt auf Feststellung, dass die VS verpflichtet ist, weitere 1.376.000 Euro zu regulieren.
Entscheidung
Zur Zulässigkeit des Feststellungsantrags verweist das OLG auf den BGH (Urteil vom 13.04.2022 - IV ZR 60/20, IBRRS 2022, 1345) und verurteilt die VS zur vollständigen Regulierung - allerdings nur nach dem Zeitwert und ohne die geltend gemachten Verzugsschäden (und ohne den Urteilsbetrag zu nennen). Der VN hat keine Obliegenheit verletzt. Er war nicht zur Erteilung einer schriftlichen Vollmacht verpflichtet. Bei der Auslegung Allgemeiner Versicherungsbedingungen kommt es darauf an, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie versteht. Nach dem Wortlaut der Versicherungsbedingung besteht keine Pflicht zur Vollmachtserteilung. Der VN hat zudem die gestellten Fragen beantwortet. Dass die Antworten für die VS unbefriedigend oder unzureichend waren, ist unerheblich, da die Grenze zur Antwortverweigerung nicht überschritten ist. Die Nichtbeantwortung der Fragen des SV bzw. die Nichtbesorgung der Unterlagen ist eine nur leicht fahrlässige Obliegenheitsverletzung. In diesem Fall mag der VN sich allenfalls über den Umfang seiner Verpflichtung geirrt haben, er hat sich aber weder vollständig geweigert, weitere Auskünfte zu erteilen, noch ins Blaue hinein falsche Angaben gemacht.
Praxishinweis
Hier hatten der VN und die VS bereits wegen der Inhaltsversicherung zur Neuwertspitze miteinander gestritten (OLG Dresden, IBR 2021, 49). Auch in diesem Rechtsstreit war die Frage der Zulässigkeit eines Feststellungsantrags streitgegenständlich, ob es darauf ankommt, dass der VN die Ersatzbeschaffung bereits sichergestellt hat. Das OLG Dresden urteilte abweichend von der Rechtsprechung des OLG Köln (VersR 2018, 1248) zu Gunsten des VN.
RA und FA für Bau- und Architektenrecht, FA für Versicherungsrecht Dr. Jörg Schmidt, Schwerin