Geringfügiger Belehrungsfehler: Widerspruch ist treuwidrig!

Die Ausübung des Widerspruchsrechts gem. § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. (hier: Fassung vom 13.07.2001) verstößt gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB), wenn ein geringfügiger Belehrungsfehler vorliegt, durch den dem Versicherungsnehmer nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Widerspruchsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben (hier: Schriftform statt Textform).*)

BGH, Urteil vom 15.02.2023 - IV ZR 353/21

BGB § 242; VVG a.F. § 5a Abs. 1 Satz 1

Problem/Sachverhalt

Beim früher verbreiteten, teilweise für gemeinschaftsrechtswidrig gehaltenen "Policenmodell" erhielt der Versicherungsnehmer (VN) die Vertragsunterlagen mit den AVB und Verbraucherinformationen erst zusammen mit dem vom Versicherer (V) übermittelten Versicherungsschein. Zwischen dem 29.07.1994 und dem 31.12.2007 so geschlossene Versicherungsverträge können zeitlich unbegrenzt durch einen Widerspruch gem. § 5a VVG a.F. widerrufen werden, wenn die Widerspruchsbelehrung fehlt oder unwirksam ist. Der Widerspruch wirkt rückwirkend. V muss (außer beim Todesfallschutz) die gezahlten Prämien (zuzüglich gezogener Nutzungen) wegen ungerechtfertigter Bereicherung zurückzahlen. Drei VN schlossen Ende 2002 so bei V drei fondsgebundene Lebens- bzw. Rentenversicherungen ab. Die Widerrufsbelehrungen lauten: "Der Vertrag gilt ... als abgeschlossen, wenn Sie nicht innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt der genannten Unterlagen schriftlich widersprechen. ... Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs an uns." Zunächst kündigen, dann widerrufen die drei VN die Verträge und verlangen die Rückzahlung von insgesamt 23.373,84 Euro. Zur Begründung führen sie an, dass seit dem 01.08.2001 nicht mehr Schrift-, sondern nur noch Textform für den Widerruf vorgeschrieben war, die Widerrufsbelehrungen deshalb unwirksam waren.

Entscheidung

Die VN verlieren in allen drei Instanzen. Es gibt nach Treu und Glauben ein vorrangiges schutzwürdiges Vertrauen des V in den Fortbestand der Verträge, da Umstände vorliegen, die den Schluss zulassen, dass die VN auch in Kenntnis ihres Lösungsrechts vom Vertrag an diesem festgehalten hätten. Die drei VN haben trotz der bereits 2002 erfolgten Belehrungen über ihr Widerspruchsrecht erst Ende 2017 nach vorheriger Kündigung und Abrechnung der Verträge von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch gemacht. Der nur geringfügige Fehler der Belehrung hat die VN nicht von der Ausübung des Widerspruchsrechts innerhalb der bei ordnungsgemäßer Belehrung geltenden Frist abgehalten. Die Ausübung der Schriftform ist im Vergleich zur Textform keine wesentliche Erschwernis (Aufgabe von BGH, Urteil vom 17.06.2015 - IV ZR 367/13, Rz. 12, IBRRS 2015, 3575). Deshalb ist es angesichts der Rechtsprechung des EuGH und des BGH unverhältnismäßig, die Lösungsmöglichkeit der drei VN unter Hinweis auf diesen Fehler in der Belehrung zeitlich unbegrenzt zuzulassen.

Praxishinweis

Eine lesenswerte Entscheidung. Ebenso wie der BGH hatten schon das OLG Karlsruhe zur "Schriftform" in der Belehrung (Urteil vom 15.08.2017 - 12 U 97/17IBRRS 2017, 3049) und der BGH selbst (z. B. auch OLG Dresden, IBR 2019, 461) entschieden, dass es dem VN nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt ist, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrags auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen. Dieser Grundsatz gilt auch, falls das Policenmodell wegen Verstoßes gegen die Lebensversicherungsrichtlinien der EU gemeinschaftswidrig wäre, weshalb der BGH diese Frage nicht entscheiden und sie nicht dem EuGH vorlegen musste.

RA und FA für Bau- und Architektenrecht, FA für Versicherungsrecht Dr. Jörg Schmidt, Schwerin