Nachbarwiderspruch: in der Regel kein Eilrechtsschutz

Der Nachbar hat gegen eine erteilte Baugenehmigung nur dann einen Anspruch auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruches, wenn eine umfassende Abwägung der Interessen des Bauherrn an einer sofortigen Ausnutzung der erteilten Baugenehmigung und des Nachbarn, von der Vollziehung der Baugenehmigung bis zur Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben, ergibt, dass die Interessen des Nachbarn überwiegen.

OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 13.02.2025 – 2 B 35/24

VwGO § 80 Abs. 5 Satz 1, § 80a Abs. 3, BauGB § 212a Abs. 1, BauNVO § 15 Abs. 1 Satz 2, § 6, LBO-SH § 63

 

Problem/Sachverhalt

Der Nachbar (N) betreibt in vierter Generation eine Zimmerei auf seinem Grundstück im unbeplanten Innenbereich. Die Stadt erteilt dem B für ein angrenzendes Grundstück eine Baugenehmigung für ein Mehrfamilienhaus. N befürchtet, dass sich Nutzer des Grundstücks des B über den Betriebslärm beschweren könnten. Also legt N bei der Stadt Widerspruch gegen die Baugenehmigung ein und beantragt beim Verwaltungsgericht, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs anzuordnen.

 

Entscheidung

Ohne Erfolg! Mit § 212a Abs. 1 BauGB, nach dem Widersprüche gegen Baugenehmigungen keine aufschiebende Wirkung haben, hat der Gesetzgeber dem Bauverwirklichungsinteresse grds. den Vorrang eingeräumt. Die aufschiebende Wirkung kann nur angeordnet werden, wenn die Rechtsposition des N durch den Bau und die Nutzung des genehmigten Vorhabens überwiegend wahrscheinlich unerträglich oder in einem nicht wiedergutzumachenden Maße beeinträchtigt bzw. gefährdet wird. Das ist nicht der Fall. N kann sich nicht auf einen Gebietserhaltungsanspruch berufen. Danach kann ein Nachbar das Eindringen eines der Nutzungsart nach unzulässigen Bauvorhabens in das Baugebiet abwehren, wenn das Vorhaben mit der Gebietsart unvereinbar ist. Es gibt keinen Bebauungsplan. Die Zuordnung zu einem faktischen Baugebiet im Sinne des § 34 Abs. 2 BauGB ist fraglich. In der näheren Umgebung befinden sich viele Wohngebäude. Deshalb spricht einiges dafür, die nähere Umgebung als Gemengelage zu qualifizieren. Bei einer Gemengelage besteht von vornherein kein Gebietserhaltungsanspruch. Selbst wenn ein faktisches Mischgebiet nach § 6 BauNVO vorläge, wäre in diesem die Wohnnutzung allgemein zulässig. Es ist nicht ersichtlich, dass durch die Zulassung einer weiteren Wohnnutzung der Wohngebietscharakter „kippen“ könnte. Auch das Gebot der Rücksichtnahme ist nicht verletzt, da die heranrückende Wohnbebauung keinen unzumutbaren Immissionen im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO und § 6 BauNVO ausgesetzt sein wird und Konflikte nicht verschärft oder begründet werden. Aufgrund der konkreten örtlichen Gegebenheiten besteht eine spezifische gegenseitige Pflicht zur Rücksichtnahme, die zu einer Duldungspflicht desjenigen führt, der sich solchen Immissionen aussetzt (BVerwG, Urteil vom 29.11.2012 – 4 C 8/11 – Rn. 16, juris). Das Vorhaben muss daher vor seiner Realisierung vorhandene Belastungen hinnehmen und stärkere Belastungen durch mögliche und zumutbare Maßnahmen der „architektonischen Selbsthilfe“, etwa in Bezug auf die Stellung des Gebäudes auf dem Grundstück, vermeiden. N kann jedoch nicht verlangen, dass der Nachbar Fenster einer bestimmten Schallschutzklasse einbaut. Festsetzungen zu passiven Schallschutzmaßnahmen mögen bei der Aufstellung von Bebauungsplänen erforderlich sein und dann auch nachbarschützende Wirkung haben, wenn von ihnen eine Ausnahme erteilt oder befreit wird. Hier muss der Zimmererbetrieb jedoch bereits jetzt Rücksicht auf die vorhandene Wohnbebauung in seiner Nähe nehmen. Das neue Wohnbauvorhaben rückt nicht näher an sein Grundstück heran als die vorhandene Wohnbebauung. Insoweit gilt für B dasselbe wie für die bereits vorhandenen Nachbarn. B hat keinen Abwehranspruch gegen die bislang zulässigen Immissionen. Welche architektonischen Selbsthilfemaßnahmen B ergreift, kann sich deshalb nicht aus dem Rücksichtnahmegebot ergeben.

 

Praxishinweis

Die umfassende Interessenabwägung ergibt in der Regel einen Vorrang der Interessen des Bauherrn vor denen des Nachbarn. Selbst die objektive Rechtswidrigkeit der angefochtenen Baugenehmigung allein führt nicht zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs. Vielmehr muss der Nachbar in subjekt-öffentlichen Nachbarrechten verletzt sein. Die Baugenehmigung ist also allein daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen Vorschriften verstößt, die dem Schutz des um Rechtsschutz nachsuchenden Nachbarn dienen. Das muss der Anwalt des Nachbarn prüfen und begründen.

 

gez. Dr. Jörg Schmidt Fachanwalt für Bau-, Architekten- und Versicherungsrecht, Schwerin